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Kunsttherapie

Gerontopsychiatrisch-Geriatrischer Verbund Charlottenburg-Wilmersdorf e.V.

Kunsttherapie

von Jörg Frey, Maler, Grafiker und Kunsttherapeut

Wer zum Pinsel greift, ihn in die Farbe taucht und dann seine farbigen Spuren auf einem weißen Blatt Papier hinterlässt, taucht in die Welt der Bilder ein. Was ich gemalt habe, das bleibt sichtbar. Ich kann es immer wieder ansehen. Ich gewinne ein Gegenüber, das mir antwortet. Meine Malspur bleibt bestehen. Ich habe alle Zeit, die ich brauche, um sie weiterzuführen – in meinem Tempo und auf meine Art. Es ist vermutlich gerade dieser wortlose und zeitlich angepasste Dialog zwischen dem Bild und seinem Schöpfer, der die Malerei zu einem idealen Wahrnehmungs- und Handlungsraum auch für Menschen mit Demenz werden lässt.

Bildhaftes kann uns im tiefsten Inneren bewegen. Die Macht der Bilder und der Farbe hat uns sowohl menschheitsgeschichtlich als auch individuell von frühester Zeit an begleitet. Viele von uns hatten in der Kindheit einen unmittelbaren und lustvollen Zugang zum Malen und Zeichnen. Manche bewahrten sich diese vitale Lust am Gestalten. Andere äußern als Erwachsene abwehrend oder ängstlich: „Ich konnte noch nie malen, ich bin unbegabt!“ – und sie wenden sich vorschnell von einer unversiegbaren Kraftquelle ab. Ganz überzeugt sind sie aber oft selbst nicht von ihrem Unvermögen – und hegen den heimlichen Wunsch, es doch noch einmal zu wagen… Menschen mit Demenz wagen es. Angehörige, Ärzte und Pfleger irritiert es gelegentlich, dass ihre Patienten, die sie doch ganz anders kennen, einen Kreativitäts- schub erleben. Doch die Betroffenen können sich der Welt nur noch wahrhaftig gegenüber stellen. Hemmungen und ein hinderliches Leistungsdenken treten in den Hintergrund. Dafür gewinnt ein tiefes Grundbedürfnis des Menschen wieder mehr Raum: das Bedürfnis, sich gestalterisch auszudrücken und mit sich und anderen in Kontakt zu treten.

Inge Netzer, ohne Titel, Tempera auf Zeichenkarton, 30 x 40 cm, 2011

Inge Netzer, ohne Titel, Tempera auf Zeichenkarton, 30 x 40 cm, 2011

Hier setzt Kunsttherapie mit den ihr eigenen Möglichkeiten an. Die Kunsttherapie ist neben Musiktherapie, Tanztherapie, Theatertherapie u.a. eine Fachrichtung der „Künstlerischen Therapien“. Sie fördert die Fähigkeit des Menschen, seine Umwelt unmittelbar über die Sinne wahrzunehmen und zu begreifen.
Mein Projekt Kunst•Zeit•Alter gehört zu den wenigen kunsttherapeutischen Langzeitprojekten in der Altenpflege und wurde 2002 durch eine Kooperation mit dem Seniorenheim „Karl Steeb“ gegründet. Inzwischen hat sich das Projekt stetig erweitert. In den neun Gruppen von Kunst•Zeit•Alter malen jede Woche bis zu siebzig Senioren im Alter zwischen 74 und 101 Jahren, die in fünf Berliner Pflegeeinrichtungen leben.
Kunst•Zeit•Alter lädt zur Gruppenarbeit mit fünf bis neun Teilnehmerinnen und Teilnehmern ein, wobei Menschen mit und ohne Demenz in einem Atelier gemeinsam tätig sind und einander unterstützen und fördern. Für die Betroffenen geht die Erkrankung oft mit Beziehungsverlusten einher. Während der Tätigkeit in der Gruppe ist es jedoch möglich, wieder Kontakt zu an-deren Menschen aufzunehmen, miteinander zu malen und zu sprechen. Die Anerkennung in der künstlerischen Begegnung ist echt – und dadurch wirkt sie motivierend. Die Betroffenen fühlen sich hier offenbar gleich-berechtigt in einer Sozialgemeinschaft und erleben nach eigener Aussage Verbundenheit und Verständnis. Für viele Menschen ist es ein tief greifendes Erlebnis, wieder integriert zu sein.
In zehn Jahren Kunst•Zeit•Alter nahmen 270 Menschen an diesem Projekt teil, da-runter 188 Betroffene von Demenzen. Dabei gab es eine deutliche Tendenz zu stabilen, langfristigen Teilnahmen, wo-durch die Kunsttherapie lebensbegleitend wurde. Inzwischen liegen Erfahrungen und Bilder aus mehr als 2900 Gruppentreffen vor. Diese kunsttherapeutischen Verläufe sind dokumentiert und erlauben mir daher einige erste Verallgemeinerungen.
Menschen, die problematische Hirnalterungsprozesse bewältigen, gehen dabei einen ganz individuellen Weg. Der Kunsttherapeut darf sich getrost von Demenzklischees lösen und auf eine individuelle Begegnung einlassen: wahrhaft interessiert und bereit, innerlich zugewandt. Er darf, wie jeder andere Begleiter, darauf vertrauen, dass die Betroffenen über ihre emotionale Wahrnehmungsfähigkeit verfügen und ein intaktes Gefühlsgedächtnis haben. Eine gute Voraussetzung für die Beschäftigung mit Kunst!

Joachim Jander Die Glienicker Brücke, Tempera auf Zeichen-karton, 30 x 40 cm, 2011

Joachim Jander
Die Glienicker Brücke, Tempera auf Zeichen-karton, 30 x 40 cm, 2011

Menschen mit Demenz können innerhalb eines Schutzraumes und auf der Basis einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung einen dauerhaften Zugang zur Malerei finden. Selbst eine visuokonstruktive Apraxie ist dabei kein Hindernis. In einer durchschnittlichen vollstationären Pflegeeinrichtung sind zwischen 10 und 25 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner für eine kunsttherapeutische Gruppe geeignet.
Es zählt heute zu den Grundsätzen, dass den Betroffenen in Pflegeeinrichtungen nur solche Beschäftigungen angeboten werden sollen, die biografisch begründbar sind. Wie alle einschlägigen Verallgemeinerungen, so ist auch diese fragwürdig. Meine Erfahrungen zeigen, dass Menschen mit Demenz auch bislang unbekannte Begabungen bei sich selbst neu entdecken und diese Ressource für sich nutzen können. Nehmen sie dann über längere Zeit an der Kunsttherapie teil, so entwickeln sie in der Regel eine faszinierend eigene, unverwechselbare künstlerische Handschrift. Sie erweitern über längere Zeiträume hinweg schrittweise ihre malerische Kompetenz. Das Atelier, ein Ort der Teilhabe am kulturellen Leben, wird so zu einem Raum für die persönliche Weiterentwicklung.
Ein gelungener Selbstausdruck ist ein beglückendes Ereignis. Das eigene Handeln auf der Bildfläche kann dann als wirksam und sinnerfüllt erlebt werden. Das selten gewordene Gefühl des eigenen Erfolgs bewirkt, dass die eingesetzten Kompetenzen positiv verstärkt werden. Die Angst nimmt ab, die Teilnehmer bringen mehr Vertrauen und mehr Entscheidungsfreudigkeit auf. Dies mag in handelnder Auseinandersetzung ohne sprachliche Umsetzung geschehen. Wenn die Malerinnen und Maler sich jedoch zu ihren Bildern äußern, fällt eine deutlich verbesserte Wortfindung auf.
Im besten Falle wird die Malerei allmählich zu einer Sprache, die den betroffenen Menschen zum Ausdruck ihrer Wahrnehmungen, ihrer Gefühle und Gedanken dient. Wir sollten beachten und wert schätzen, dass die künstlerische Äußerung an die Stelle der sprachlichen Äußerung treten kann, wenn diese nur noch eingeschränkt möglich ist. Wir sollten wertschätzen, dass uns die Betroffenen mit ihrer Malerei unmittelbare Einblicke in das Bilderreich ihrer Seele bieten – eine eindrucksvolle Einladung zum Dialog, die wir annehmen dürfen.

(Die Quellen können im Verbundbüro angefordert werden. Telefon: 030/3010 5552)